Aktivist Marcus bewohnt mit 13 Menschen einer WG mit sieben Zimmern. Der 23-jährige studiert Politikwissenschaften und fehlt selten auf einer der unzähligen Demonstrationen in Berlin. Im Interview erzählt er, wie es ist, ohne private Einzelzimmer zu wohnen und warum Arbeit nicht nur dann Arbeit ist, wenn sie entlohnt wird.
Von Aaron Bruckmiller
Ihr versteht euer Projekt als Gegenentwurf zur Leistungsgesellschaft. Ist wohnen für Dich politisch?
Ja. Wir versuchen uns gegenseitig aufzufangen, zum Beispiel wenn die eine oder der andere Probleme mit dem Arbeits- oder BAföG-Amt hat. Das kann auch bedeuten, dass eine Person nicht die Miete zahlen kann und die anderen das übernehmen.
Wie würdest Du deine WG beschreiben?
Wir haben keine Einzelzimmer, sondern Zimmer mit gewissen Funkionen: Eine Wohnküche, ein Bürozimmer, zwei gemeinsame Schlafzimmer, einen Werkraum und zwei Privatzimmer, in denen man auch einmal alleine sein kann. Das wird funktionales Wohnen genannt. Wir haben gemeinsame Kleiderschränke und teilen uns die Miete solidarisch, je nachdem wie viel Geld das jeweilige Mitglied hat. Alle Lebensmittel werden aus einer gemeinsamen Kasse bezahlt.
Deine MitbewohnerInnen haben unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen inne: Sie studieren, sind erwerbslos oder lohnarbeiten. Kommt es dadurch zu Konflikten?
Über Geldfragen gibt es einen Konsens. Wir haben einen anderen Arbeitsbegriff als viele andere. Daher schätzen wir viele Tätigkeiten als gleich wertvoll ein, selbst wenn sie gesellschaftlich nicht mit Geld belohnt werden. Studieren, politische Aktivität und Freizeitbeschäftigungen werden in unserer Gesellschaft nicht bezahlt und können somit nicht in die Miete einfließen. Darüber gibt es keine Konflikte. Ein größeres Problem ist die Sauberkeit und andere Beiträge zum WG-Leben, unter anderem weil die Einzelnen je nach ihren Verpflichtungen und Aktivitäten unterschiedlich viel Zeit haben.
Das bedeutet doch, dass es ganz ohne Leistungen in eurem Projekt auch nicht funktioniert. Wie sanktioniert Ihr es, wenn eine Person in ihrer Rolle als WG-Mitglied nicht genug leistet?
Wir treffen uns einmal in der Woche zu einem gemeinsamen Plenum. Dort diskutieren wir manchmal mehrere Stunden über Konflikte und Probleme in der WG. Erst gestern gab es eine Diskussion über unseren nicht so gut funktionierenden Putzplan. Wir legen uns schon selbst Regeln auf. Sanktionen gibt es allerdings nicht, nur sozialer Druck ist manchmal notwendig. Sonstige Strafen – die es in unserer Gesellschaft gibt – lehnen wir ab, weil es unserer Vorstellung von einem solidarischen Zusammenleben trotz unterschiedlicher Lebensrealitäten widerspricht.
Lohnt sich der Aufwand?
Wir haben auf alle Fälle mehr Raum, als in WGs mit gängigen Privatzimmern. Ich finde es ziemlich befreiend, dass es keine starren Besitzverhältnisse gibt, dass alle Zimmer frei zugänglich sind und alle Lebensmittel geteilt werden. Meine WG ist ein Ort der Freundschaft, in dem alle rücksichtsvoll mit mir umgehen und wenn es mir schlecht geht, werde ich dort aufgefangen.
Kannst Du dir vorstellen, dass unsere Gesellschaft nach ähnlichen Prinzipien aufgebaut ist wie euer Projekt und ohne Leistungs- und Konkurrenzdruck?
Das kann ich mir gut vorstellen. Das ist mein Bild von einer anderen, solidarischen Gesellschaft. Wir versuchen das im Kleinen zu leben. Unsere WG will eine Keimzelle einer neuen Form des Zusammenlebens sein. Außerdem versuchen wir der Leistungsgesellschaft damit ein Stück weit zu entfliehen. Wir wollen auch ein Vorbild für andere Menschen zu liefern. Die uns besuchenden Menschen haben bis jetzt nur Positives zurückgemeldet und wohnen oft wochenlang mit uns. Viele sagen, dass sie nun einen neuen Blick auf Formen des Zusammenlebens haben.
Manche werden einwenden, dass eure WG auf gesellschaftlicher Ebene nichts ändern wird.
Freundinnen und Freunde haben unser Projekt schon als Anstoß genommen, um ihre eigene Wohnform zu ändern. Viele Menschen, mit denen ich spreche, reflektieren vor den Erfahrungen unserer WG ihre eigene Form des Zusammenlebens. Natürlich werden wir nicht in den nächsten fünf Jahren die große Revolution des Zusammenlebens herbeiführen. Aber unser Projekt kann ein kleiner Beitrag sein.
Welche Nachteile eures Wohnprojektes siehst Du selbst?
Jedes WG-Mitglied arbeitet, wenn auch nicht nur in der Form der Lohnarbeit. Wir stehen alle unter einem Leistungsdruck, etwa der Universität. Dadurch können wir oft nicht die Zeit für aufräumen, einkaufen und was noch so anfällt aufbringen. Das führt dann bei mir zu einem Unwohlsein, wenn diese Dinge nicht erledigt werden oder auf wenigen Schultern lasten. Andererseits kann ich damit rechnen mit Rücksicht behandelt zu werden, wenn ich selbst einmal keine Zeit habe.
Müssen in einer vom Leistungsprinzip befreiten Gesellschaft alle Menschen funktional wohnen?
Nein. Jedem Menschen sollte es selbst überlassen sein, wie er oder sie wohnen möchte. Es ist eine meinen Bedürfnissen angemessene Form des Zusammenlebens. Andere Menschen können sich unser oder ähnliche Projekte ansehen und dann entscheiden, ob es eine Möglichkeit für sie ist, dies so zu handhaben oder nicht.
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